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Grundkonzepte der personzentrierten Psychologie und Psychotherapie

Die Aktualisierungstendenz (Denk Martin, Hypothese zu Ursprung und Eigenschaften der Aktualisierungstendenz, 3-5) steht im Kontext einer umfassenden personzentrierten Theorie, deren Themenfelder sich ausgehend von Erfahrungen aus psychotherapeutischen Settings in konzentrischen Kreisen sukzessive auf die Gebiete der zwischenmenschlichen Beziehungen generell, Persönlichkeitstheorie, Entwicklungspsychologie, die Psychologie von Gruppen usw. ausweiten. Der Begriff „personzentriert“ bezieht sich auf das Konstrukt der Person, die im Mittelpunkt der Theorie steht. Weiters handelt es sich um eine Beziehungstheorie, die die Person immer im doppelten Kontext ihres inneren Aufbaues und ihrer Umgebung versteht. Dies führt zu einem sowohl individuelle als auch kontextuelle Sichtweisen kombinierenden Menschenbild, denn die Person steht in Beziehung sowohl zu relevanten Anderen als auch zu sich selbst.

Die personzentrierte Psychologie wird oft neben der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie als drittes großes Paradigma der psychosozialen Anwendungsbereiche verstanden. Der Unterschied zu den beiden erstgenannten Paradigmen wird bereits in den Annahmen, die diesen zugrunde liegen, sichtbar. Die Psychoanalyse z. B. sieht „das Individuum als von Natur aus zerstörerisch“ an und betrachtet „eine kontrollierte Person, die einen gesellschaftlich akzeptierten, mehr oder weniger fixierten Grad der Abwehr (gegen ihre eigene Erfahrung) zeigt“ (Rogers 1959a, 73f. 72) als gesund. Im Gegensatz dazu betrachtet die Personzentrierte Psychologie die Differenz von gesund und krank nicht als ein entweder oder, sondern als ein fließendes Kontinuum zwischen diesen beiden Extremen, und kommt zu anderen Schlüssen, was die Kriterien für Gesundheit betrifft.

Das Spektrum von krank bis gesund aus Personzentrierter Sicht erstreckt sich von desorganisierten Persönlichkeitsstrukturen (mit Parallelen zum Konzept der Psychose) über Personen mit widersprüchlichem Verhalten (mit Parallelen zum Konzept der Neurose) zur „durchschnittlichen Person (…) mit einiger Fehlanpassung, Inkongruenz und Abwehr.“ (Rogers 1959a, 61) und darüber hinaus zur vermutlich fiktiven Kulmination dieser Entwicklungskurve in der Annahme einer „fully functional person“, die sich als erfahrungsoffenes, daher seine Erfahrung ohne Abwehr exakt symbolisierendes, sich selbst und andere bedingungslos beachtendes und selbstbestimmtes Individuum erlebt.

Die singuläre Motivationsquelle von Personen und in Folge auch ihren Beziehungen ist im personzentrierten Menschenbild die Aktualisierungstendenz. Der Begriff „bezeichnet die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, daß sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen.“(Roger 1959a, 21)

Er beinhaltet nicht nur die sogenannten „deficiency needs“ oder Grundbedürfnisse, auf die viele psychosoziale Theorien den Menschen beschränken oder zurückführen wollen, sondern auch Motivationen wie sich zu differenzieren, zu wachsen, und selbstbestimmter zu werden. Das eigentlich Revolutionäre an dieser Ansicht ist aber, dass selbst die deficiency needs nur als ein Anteil der Aktualisierungstendenz angesehen werden. Diese beinhaltet „keine anderen Energie- und Aktionsquellen“ (Rogers 1959a, 22).

Hier wird eine Art Tendenz zu psychischer Evolution angenommen, deren Vorhandensein sich aus der Erfahrung und Analyse von Psychotherapien, Selbsterfahrungsgruppen und generell menschlichem Beziehungsverhalten ableitet, und diese wird als einzige Grundlage und formative Kraft in der Entwicklung von Individuen, Gruppen und vielleicht sogar Kulturen vermutet. Über sie schreibt Rogers, dass „diese grundlegende Aktualisierungstendenz das einzige Motiv ist, welches in diesem theoretischen System als Axiom vorausgesetzt wird.“ (Rogers 1959a, 22). Zum näheren Verständnis der Aktualisierungstendenz muss das theoretische System, das ihren Kontext bildet, näher ausgeführt werden.

Eine der ersten Differenzierungen und ein Bestandteil der Aktualisierungstendenz ist die Selbstaktualisierung. Als Selbst bezeichnet man die Sichtweise einer Person auf sich selbst. Die Selbstaktualisierung ist daher jener Bruchteil der Aktualisierungstendenz, der die Entfaltung des Selbst vorantreibt. Die Erfahrung, die die Aktualisierungstendenz als Information für die gesamte organismische Entfaltung benutzt, könnte man als ihr Rohmaterial verstehen. Diese kann verleugnet, verzerrt oder aber korrekt symbolisiert werden. Der Ursprung von Verleugnung und Verzerrung von Erfahrungen wird in einer Inkongruenz bzw. einem Widerspruch zwischen der gesamten Aktualisierungstendenz und der Selbstaktualisierung gesehen. Gefühle färben Erfahrungen und geben ihnen persönliche Bedeutung. Von Erfahrungen oder Gefühlen, die weder verleugnet noch verzerrt werden, wird gesagt, dass sie der Gewahrwerdung zugänglich sind, Bewusstsein wird in Folge als symbolische, nicht notwendigerweise verbale Repräsentation oder Symbolisierung eines Teiles der Erfahrung der Person aufgefasst. Die Klarheit und Funktionalität einer Symbolisierung kann in ihrer Deutlichkeit von unterschwelliger Wahrnehmung bis zu exakter Symbolisierung reichen. Als Selbsterfahrung bezeichnet man jene Erfahrungen, auf denen aufbauend das Selbst organisiert wird. Das Selbst wird, wenn ein Beobachterstandpunkt von außen eingenommen wird, manchmal auch als Selbstkonzept bezeichnet. Idealselbst nennt man eine weitere Substruktur des Selbst, nämlich jenes Selbstkonzept, dass eine Person am liebsten wäre.

Als problematische bis pathologische Entwicklungen verursachend werden Inkongruenzen zwischen Selbst und Erfahrung gesehen. In Folge werden Informationen aus der Erfahrung, die mit dem Selbstkonzept nicht vereinbar sind, verzerrt und verleugnet. Solche Erfahrungen treffen dann auf Abwehrverhalten des Organismus, was eine korrekte Symbolisierung verhindert. Man sagt, es besteht eine psychische Fehlanpassung. In Folge treten Gefühle der Angst und Bedrohung in Bezug auf Erfahrungen auf, die diffus als unvereinbar mit der Selbststruktur wahrgenommen werden, und die Verletzlichkeit der Person steigt. Die Person beginnt sich immer intensionaler zu verhalten, worunter eine Tendenz verstanden wird, Erfahrungen zu verabsolutieren, Erfahrungen und Bewertungen zu verwechseln und generell immer rigider zu werden. Im Extremfall – wenn das Abwehrverhalten plötzlich und massiv durch ein Gewahrwerden der das Selbstkonzept gefährdenden Erfahrungen überwunden wird – kann es zur Desorganisation des Selbst, einem Zusammenbruch der Selbststruktur kommen, die als ein letzter Versuch der Aktualisierungstendenz gedeutet werden kann, ihre zerspaltenen, inkongruenten Anteile wieder zu vereinigen.

Es ergibt sich auch ein Konzept für gesunde Personen. Diese zeichnen sich durch Kongruenz von Selbst und Erfahrung aus. Die resultierende Form des Verhaltens wird auch als ganz, echt, authentisch, reif oder integriert bezeichnet. Eine solche Person ist erfahrungsoffen – denn sie hat nicht das Gefühl, manche ihrer Erfahrungen abwehren zu müssen. Sie ist psychisch ausgeglichen – Selbst und Erfahrung stimmen überein. Schließlich ist sie noch extensional – sie beurteilt ihre Erfahrungen differenziert.


Sowohl gesunde als auch pathologische Entwicklungen finden aus Personzentrierter Sicht in und durch Beziehungen statt. Statt des Wortes „Beziehung“ wurde dafür aber der Begriff Kontakt gewählt. Kontakt kommt zustande, weil Personen ein Bedürfnis nach positiver Beachtung haben. Werden Selbsterfahrungen nicht danach unterschieden, ob sie der positiven Beachtung mehr oder weniger würdig sind, bezeichnet man dieses Erleben als bedingungslose positive Beachtung. Durch Beziehungen, die dieses Bedürfnis mehr oder weniger erfüllen, entstehen einerseits Bewertungsbedingungen, die sich in einem Bewertungskomplex organisieren, andererseits die Fähigkeit zu positiver Selbstbeachtung, unter Umständen sogar bedingungsloser positiver Selbstbeachtung.

Die letzteren beiden Erlebensformen entstehen durch die Übertragung der Erfahrung positiver oder bedingungslos positiver Beachtung in Beziehungen zu signifikanten Anderen auf die Beziehung zu sich selbst, was zu erhöhter Autonomie führt – denn die Person erlebt sich selbst als den Ort der Bewertung der Nützlichkeit bestimmter Erfahrungen für den Organismus und „wird so ihr eigenes signifikantes soziales Gegenüber“ (Rogers 1959a, 36). Bewertungsbedingungen andererseits äußern sich dadurch, dass bestimmte Erfahrungen nur mehr deswegen angestrebt oder vermieden werden, weil dadurch die positive Beachtung anderer gesichert werden könnte. Ob diese Erfahrungen der Entfaltung und dem Wachstum des Organismus als Ganzes dienen, wird weniger wichtig – was zu erhöhter Heteronomie führt.

Wichtig zum Verständnis der Personzentrierten Theorie ist schließlich die Empathie – worunter die Fähigkeit des einfühlenden Verstehens in den inneren Bezugsrahmen eines anderen verstanden wird, ohne sich mit diesem zu identifizieren. Wenn Empathie, Kongruenz und bedingungslose positive Beachtung in sich gegenseitig bedingender Weise erlebt werden, bezeichnet man diese Erfahrung als Präsenz. Bei einem anderen, mit dem die Person, die die Präsenz erfährt in Kontakt ist, löst diese einen Prozess aus, der zu erhöhter Kongruenz führt, verbesserter Kommunikation, positiver Selbstbeachtung usw. Es ist dieser Prozess, der in Psychotherapien, aber auch Selbsterfahrungsgruppen zur Freisetzung und Einigung der Aktualisierungstendenz genutzt wird – und möglicherweise mehr oder weniger in jeder konstruktiven Form menschlicher Beziehungen wirkt.


Wird die Aktualisierungstendenz so entfaltet, dass eine Person sich selbst nicht mehr zu verleugnen braucht und Vertrauen in den eigenen inneren Kern besitzt, dann ist ihr Verhalten konstruktiv „(...) nicht immer konventionell und konform, sondern individualisiert, aber immer auch sozialisiert.“ (Rogers 1983, 112).

Persönlichkeitsentwicklung und Lernen geschehen von Geburt an und das ganze Leben lang durch Kontakt und in Beziehung zu Mitmenschen. Ein günstiger Verlauf des persönlichen und beruflichen Entwicklungsprozesses hängt entscheidend von der Qualität der Beziehungen ab. (Weiter-) Entwicklung und Lernen sind als dynamische Selbstorganisationsprozesse in Beziehungen zu verstehen. Die Qualität des Entwicklungsklimas und der Umgebungsbedingungen ist zentral für die Förderung bzw. Behinderung der Selbstaktaktualisierung der Person. Die Aktualisierungstendenz kann durch schmerzliche Beziehungserfahrungen blockiert, jedoch nie eliminiert werden. Diese angeborene Aktualisierungstendenz meint eine Gerichtetheit, die sich in allem organischen und menschlichen Leben zeigt:

„Der Drang nach (...) Entwicklung und Reife, die Tendenz, alle Kapazitäten des Organismus oder des Selbst zum Ausdruck zu bringen und zu aktivieren. Diese Tendenz kann unter Schichten verkrusteter psychischer Abwehrhaltungen tief begraben sein, sie kann hinter aufwendigen Fassaden versteckt liegen, die ihre Existenz verleugnen, sie existiert jedoch in jedem Individuum und wartet nur auf die richtigen Bedingungen, um freigesetzt und ausgedrückt zu werden. Diese Tendenz ist die primäre Motivation für Kreativität, dafür, dass der Organismus neue Beziehungen zur Umwelt herstellt in seinem Bemühen, am vollständigsten er selbst zu sein.“

(Rogers 1983, 340).

Bestehen Widersprüche zwischen Selbst und Erfahrung, so steht die Person unter Spannung. Es kostet Kraft, Erfahrungen, die das Selbstbild gefährden, abzuwehren, und gleichzeitig möchte das Bedürfnis, man selbst zu sein, befriedigt werden:

„Bei starker Inkongruenz nimmt die Aktualisierungstendenz zwiespältigen Charakter an. Einerseits unterstützt diese Tendenz das Selbstkonzept der Person, die darum kämpft, ihr Bild von sich zu vervollkommnen. Andererseits meldet auch der Organismus seine Bedürfnisse an, die mit den bewussten Wünschen der Person vielleicht völlig unvereinbar sind.“

(Rogers 1987 b, 43-44).

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